Mettenhofer Kulturtage - "Die Straße der kleinen Ewigkeit"
"Die Straße der kleinen Ewigkeit" von Martin Beradt
Vorgestellt von Elke und Dieter Schunck
Mit ihrer Buchvorstellung im Rahmen der 10. Mettenhofer Kulturtage 2016 knüpften Elke und Dieter Schunck an vorhergehende Kulturtage an, bei denen sie Lesungen und Besprechungen über Bücher hielten, die von Autoren geschrieben wurden, die in der Zeit zwischen den Kriegen oder der Nachkriegszeit lebten und die Handlung im fernen Ostgalizien spielte. Mit diesem Literaturgenre, dem sich Elke und Dieter Schunck widmen, soll Vergangenes nicht in Vergessenheit geraten. In ihren Romanen kommen Zeitzeugen zu Worte, die durch Flucht und Vertreibung geprägt wurden. Ihnen geben Elke und Dieter Schunck ihre Stimme zurück.
In der Kulturscheune des Hofs Akkerboom, Stockholmstraße 159, gaben sie eine Einführung in Martin Beradts Roman "Die Straße der kleinen Ewigkeit". Diese Geschichte handelt von den Geschicken zweier Häuser im "Scheunenviertel" hinter Berlins Alexanderplatz in den zwanziger Jahren, genauer 1927/28 des vorigen Jahrhunderts. Mittelpunkt dieses Romans ist eine Straße, die damalige Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße).
Jüdische Migranten aus Osteuropa suchten hier Zuflucht oder machten nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika oder Palästina. Hier lebten beziehungsweise vegetierten damals bis zu 3.000 Menschen. Es war die Höchste von der Bevölkerungsdichte in Berlin.
Unser jüdisch-orthodoxer Autor hatte hier vor Ort und in Polen - in den Ghettos der Großstätte und in kleinen Landgemeinden - jahrelang gründlich recherchiert.
Die Geschichten von jenen Namenlosen vor dem vollständigen Vergessen zu bewahren, indem er eine Sammlung von wahren Geschichten, Legenden, Mythen und Witzen in einem Buch zusammengetragen hatte, das war sein Anliegen. Dabei ist er auf eine Vielzahl von Menschen gestoßen, die sich im Verlauf des Romans einander begegnen. Eine Hauptfigur, an der sich der Leser verankern kann, gibt es indes nicht. Die Protagonisten lösen sich in dem Verlauf der Handlung einander ab und eine gewisse Nüchternheit mit einem Schuss realistischer Eindringlichkeit stellt sich beim Leser ein.
Wer war Martin Beradt? Mit dieser Frage bezog sich Dieter Schunck auf ein Nachwort von Eike Geisel in der Romanausgabe der "Anderen Bibliothek".
Martin Beradt wurde 1881 in Magdeburg geboren und zwar Sohn einer bürgerlichen, orthodox-jüdischen Familie, die nach Berlin übersiedelte. Martin studierte Jura und begann dann ein "Doppelleben" als Anwalt und Schriftsteller. Bereits mit 28 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, der überaus erfolgreich wurde. Weitere Romane sollten folgen. Sein Roman "Erdarbeiter" - eine Auseinandersetzung mit dem Krieg - fiel zunächst der Ludendorffschen Zensurbehörde zum Opfer, bis er schließlich 1919 erscheinen konnte. Es wurde ein sehr erfolgreicher Roman.
Auch als Anwalt wurde Martin Beradt überaus erfolgreich und vermögend. Er war einer der Mitbegründer des "Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller" und zeitgleich beim Berliner Kammergericht tätig.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verliert Martin Beradt 1933 sein Notariat, darf aber vorerst bis 1938 Rechtsanwalt bleiben. Danach wird ihm auch diese Lizenz entzogen. Als "Konsulent" wird es ihm erlaubt, nur noch die jüdische Klientel zu vertreten. Bis 1939 blieb er noch in Deutschland, seiner erblindeten Mutter und auch der Illusion wegen, die er mit anderen Juden teilte, daß sich noch alles zum Besseren wenden würde. In seinem schriftlichen Nachlass heißt es: "Es war nicht das Volk, das war ohne Unrecht, es war die Regierung".
Er emigrierte 1939 mit seiner Ehefrau Charlotte, die er 1938 geheiratet hatte, zuerst nach London und später nach New York, wo er 1946 starb.
Die Veröffentlichung des vorliegenden Romans ließ lange auf sich warten. Die erste Veröffentlichung erschien 1965, dann wieder 1993 und schließlich 2000 in Hans-Magnus Enzensbergers "Anderer Bibliothek". Leider sind alle Ausgaben vergriffen und können nur noch antiquarisch bezogen werden.
Am Anfang des Romans wird auf das Milieu, das in diesen Zeiten vorherrschte, eingegangen, das ohne Sentimentalität - eher nüchtern und realistisch - von Beradts beschrieben wurde. In seinen Ortsschilderungen zeichnet Beradts die Vielfalt dieses Zentrums nach. Mit dem bunten Gewimmel unterschiedlichster Lebens- und Überlebenskünstler ergibt sich eine erstaunliche Gemengelage aus Profanem und Sakralem. Die Grenadierstraße dient dabei als Schauplatz und Promenade sowie gleichzeitig als Bühne, auf der die Hauptdarsteller stetig wechseln können.
Es wird von Ritualen berichtet, die von orthodoxen Juden auf der Grenadierstraße dargeboten werden, wenn ein feierlicher Fastentag ansteht.
Es gibt zwar schon Razzien und einzelne Deportationen, aber sie sind nur die Vorboten von dem, was sich in den 30er und 40er Jahren ereignen sollte. Vorgeschoben werden dabei abbruchreife Häuser, die mit jüdischen Menschen bewohnt werden. Noch gibt es den kollektiven Widerstand nicht, aber die öffentliche Szene ist verunsichert und beunruhigt.
Schon formuliert sich die Frage unter den Bewohnern: "Auswandern, Bleiben oder auch Zurückkehren in die alte Heimat?"
Tauber, ein einfacher Mann, der mit einem Bauchladen voller Knöpfe, Nadeln, Socken und anderen Kleinutensilien hausieren geht und auf der Straße sein Geld verdient, ist derjenige, der ganz am Schluss in einem Epilog noch die Stellung halten wird.
Als fliegender Händler erfährt er vieles durch Gespräche mit anderen Schicksalsgenossen und entwickelt dadurch sein eigenes Selbst- und Weltverständnis, das er humorvoll und ironisch, teils umständlich-betulich aber auch mit einem lehrerhaften Unterton über die Straßen weiter erzählt. Dabei sind es nicht nur die religiösen Aspekte, die beleuchtet werden, sondern auch die alltäglichen Situationen, die sich in der Grenadierstraße abspielen.
Dabei tritt noch ein anderer Protagonist in Erscheinung eines Nichtsnutzes auf die Bühne, der den schönen - sicher ironisch gemeinten - Namen "Himmelweit" trägt. Von ihm heißt es im Roman, daß er als Händler mit Gewürzen begonnen hatte. Ohne Erfolg, aber damit mit Schulden. Dann hatte er es mit Kitt, Stearin und Stahlspänen versucht, zu Geld zu kommen, wieder mit dem gleichen Ergebnis: Schulden. Zwischendurch hatte er alles Mögliche versucht und alles Mögliche wieder aufgegeben. "Er lebte eher vom Hunger als vom Essen." (Zitat)
Himmelweit ist hier eher eine tragische Figur, die Beradt in diesem Roman in mehreren Akten auftreten lässt.
Es ist die Charakterisierung der Menschen, die verdeutlicht, daß wir es in den Geschichten mit einem bunten Völkergemisch zu tun haben. Die doch recht fremdartigen Lebens- und Verhaltensweisen und Mentalitäten, von denen man hier liest, können einen Schmunzeln oder einen leichten Schauer über den Rücken laufen lassen. Beradt unterteilt in seinem Roman die Bereiche in Elemente, wobei das "jüdische Element" nur eines neben den sogenannten "wirklichen Elementen" ist. Im Roman heißt es: "Dort gibt es die Betstube umgeben von Bierschänken, dunkle Mäntel inmitten dunkler Erscheinungen, Juden in der Nachbarschaft von Luden, nebeneinander die Frommen und die Frechen, Schächter und Schufte, auf der selben Etage Heilige und Huren, Synagogenverein und Ringverein, mit einem Wort: hier präsentiert sich ein ganzes Ensemble, zu einem trüben Amalgam vermengt, in welchem mit Vorliebe das Vorurteil zu fischen pflegt!" Weiter heißt es: "Von der erzwungenen prekären Nähe ist es nicht weit zur Identifikation von Rabbinern zu Schlawinern!"
Es gibt in dem Roman auch Abschnitte, die von der Herkunft und den Herkunftsorten derjenigen berichten, die ihren Unterschlupf in der Grenadierstraße gefunden haben. Sie kommen aus Dörfern, Kleinstädten, aber auch Großstädten Polens, Russlands, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine. Hunger, der 1.Weltkrieg und Bürgerkriege hatten sie vertrieben und ihre Geschicke und Erlebnisse auf der Flucht werden in dem Buch dargestellt.
Berichtet wird von den Gefahren, die fliegenden Händlern drohen, wenn sie über Land und in den Dörfern ihre Ware feilbieten, denn sie werden dort nicht immer willkommen geheißen und erleben manch böse Überraschung.
In seinem Schlusswort verweist Dieter Schunck nochmals auf das Motto dieses Buches:
"Vom Morgen bis zum Abend kann die Welt zerstört werden".
Eine Einsicht, deren Wahrheitsgehalt wir uns nicht entziehen können nach Allem, was die Nationalsozialisten und deren Regime in den 30er- und 40er-Jahren an Verbrechen verübt haben.
In dem Roman von Martin Beradt werden darüber hinaus grundlegend die wesentlichen Aspekte der Integration von Migranten und die damit verbundenen Probleme angesprochen.
Diese Thematik, die innerhalb dieses Romans immer wieder aufgegriffen wird, ist heute aktueller denn je und wird es auch angesichts der politischen Weltlage weiterhin sein.
Wilfried Likuski (Text + Fotos)
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